Samstag, 26. September 2015

Herzensarbeit




Die Herstellung einer Puppe ist dermassen antiquiert, schrullig und weltfremd, dass sie bereits als Form des Widerstandes gegen das Tempo und die Werte unserer Spass- und Konsumgesellschaft gesehen werden kann. Dieses kleine bisschen heile Welt aus Schafwolle, Trikot, Mohairgehäkel und Miniaturgenähe macht mich selbst glücklich, kann ich dabei doch wunderbar vor mich hinwursteln, nicht weniger aber auch äusserst skeptisch. Sind dies reaktionäre Handlungen? Ist das eine Flucht vor den Herausforderungen dieser Tage? Augen verschliessen und nur mein Gärtchen pflegen?


Das geschieht zur Genüge. Seichte Pseudo-Achtsamkeit mit "Flow" und "Kinfolk", DIY nach stupider Anleitung, meist noch verbunden mit der Anschaffung von exklusivem Rohmaterial, Hauptsache selbstgemacht, egal wie schlecht..., Shabby Chic ohne echte Spuren von Zeit und damit ohne Ehrlichkeit, oder kunstvolle Brotdoseninhalte von Supermoms, für welche eine Mama wie ich, die bis anhin eine Brotscheibe und nen Apfelschnitz als Znüni für angemessen hielt, mindestens einen mehrwöchigen Abendkurs belegen müsste sind nur einige wenige und willkürlich zusammengetragene Felder der "neu erstarkten Biederkeit". Seid mir nicht bös', fühlt euch nicht angegriffen, ich selbst bin nicht frei von diesen "Verlockungen". Nicht zuletzt pflegt ja auch mein Blog offensichtlich eine Ästhetik und Grundstimmung, welche immer wieder gefährlich nahe an diesen Abgrund herantänzelt.




Zum Glück, zum grossen Glück ist diese Puppe aber ganz anders entstanden. Oft hatte ich beim Werkeln meine Ohren dank Radio draussen in der Welt, und meine Gedanken und mein Herz konnten reisen, lernen und Anteil nehmen. Wenn Ohnmachtsgefühle und Wut überhand nahmen, legte ich die Arbeit beiseite, wollte ich sie doch nicht mit meinen düsteren Gedanken aufladen. Entsprechend langsam ist die Puppe entstanden. Je länger je mehr ist in mir aber auch die Zuversicht gewachsen, wie ich auf die aktuellen Geschehnisse reagieren kann, reagieren möchte.

Immer wieder und sehr gerne dachte ich mich während der Arbeit zu einem kleinen Mädchen, welches ich gar nicht persönlich kenne, malte mir aus, wie es auch dank der Puppe hineinwachsen würde in seine Welt. Indem es mit ihr Mitgefühl übte, Freundschaft probte, Verbundenheit spürte, Einsamkeit bezwänge. Ich freue mich sehr darüber, dass ich diese Puppe ziehen lassen konnte. Dass ich sie nicht in meiner eigenen kleinen Welt behalten und besitzen muss, sondern dass sie anderswo bewirken kann, was in ihrer Macht steht. Ganz ganz wenig für die Massstäbe der Welt. Aber vielleicht sehr viel für dieses eine kleine Mädchen.




Und sonst so:

Noch immer bin ich blutige Anfängerin, was die Puppenmacherei betrifft. Es finden sich einige kleinere und grössere Fehler, welche ich jetzt aber einfach akzeptiere. Dies ist meine zweite selbstgemachte Puppe, und die kleinen Makel dürfen sein.

Sicherlich werde ich beim nächsten Mal robusteren Stoff für den Körper verwenden, so werden die störrischen Schafwollhaare der Füllung auch weniger als eigenwillige "Brusthaare" da und dort hervorlugen. Mit dem Formen und der Stabilität des Halses tat ich mich schwer, ein kleiner, sehr provisorischer Loop (der eigentlich ein Haarband hätte werden sollen, dann aber zu klein war), kaschiert die Stelle. Es ist nicht ganz einfach, die richtige Füllmenge und damit die Härte resp. Weichheit der Puppe zu definieren. Nachdem meine erste Puppe ein hartes Klötzchen wurde, ist diese Puppe jetzt bewusst sehr weich geblieben. Ob und wie sie damit längerfristig zurechtkommt, wird sich zeigen. Auch die Lippen hab ich ein bisschen vermurkst, aber da vertraue ich auf den neutralisierenden Zeitfaktor.

Da die Puppe in ein Heim gezogen ist, wo wunderbarst gestrickt und genäht wird, bereitete mir die Puppenkleidung das meiste Kopfzerbrechen. Am liebsten hätte ich die Puppe nur in ein Stöffchen gehüllt übergeben, aber dann führte eines zum anderen. Ein kleines Hemdchen für die Reise rief nach einem Röckchen, dieses wiederum nach Unterwäsche. Schuhe wurden plötzlich dringend nötig und die Weste musste als baumwollenes Augenzwinkern einfach sein, schliesslich bin ich via Bora auf die "Pebbles" gestossen und habe davon auch schon mehrere für meine Kinder gestrickt. Für die gesamte Garderobe habe ich ausschliesslich Restematerial verwendet. Und natürlich freut es mich, wenn die Puppengarnitur ergänzt/ersetzt wird mit kleinen Kostbarkeiten aus dem Hause Kirschkernzeit. Damit die Puppe ganz verwoben wird mit ihrem Wirkungsfeld.

Auch habe ich die Haare bewusst nicht kompliziert frisiert und eher eine Spur zu lang gelassen. Gerne darf da noch ein bisschen optimiert werden, wenn sich herauskristallisiert, welche Frisur gut zur Puppe und den täglichen Anforderungen passt. Und da ja auch Kinder manchmal Scheren in die Hände kriegen und bei Puppen (und sich selbst) verwegene Frisuren produzieren, legte ich den Restknäuel des Mohairgarns zum Paket. Vielleicht ist man da mal noch froh darüber...

Und jetzt, jetzt spüre ich dieses Entzugs-Kribbeln, diese Unruhe, die mich gerne erfasst, wann immer ein grösseres Projekt beendet ist. Was darf es denn als nächstes sein?






11 Kommentare:

  1. Ein rührendes Einzelwesen ist hier entstanden. Begleiter für eine ganze Kindheit oder ein Leben? Und nein, das ist nicht schrullig und nicht reaktionär. Liebe ist und beleibt das Schönste und Wichtigste, das einem Kind zuteil werden kann und Dein Püppchen ist gestaltgewordene Liebe. Auch ich habe für meine Kinder ein paar wenige Dinge selbst hergestellt die mir und den Kindern viel wert sind. Und was die ganze Selbermach-Konsumhaltung angeht. Da bin ich mit dir absolut einer Meinung... LG Gitta ( auch schrullig)

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  2. Wunderwunderschön! Was anderes fällt mir dazu nicht ein!
    So viel Ausdruck und Wesensart ist spürbar. Toll!

    Liebe Grüße,
    Helga

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  3. Ein ganz wundervolles kleines Puppenkind voller Charakter hast du da geschaffen. Ich bin mir sicher, sie wird ihrer neuen Puppenmama ganz viel Freude machen.
    Das letzte Foto ist so unglaublich schön, wie sie da liegt und tagräumt.

    Herzlich, Katja

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  4. Ganz ehrlich? Ich schaue mir momentan viele selbstgemachte Püppchen an, da ich irgendwann auch damit beginnen möchte. Und als ich deine Puppe sah, fand ich spontan, dass sie eine der ausdrucksstärksten und niedlichsten ist, die ich bislang gesehen habe.
    LG Gabi

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    1. liebe gabi
      danke für dieses grosse und liebe kompliment. keine angst vor dem puppenmachen. es ist nicht schwierig. es sind nur sehr viele verschiedene schritte, aber genau dadurch wird es nie langweilig.

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  5. Hui! Eine kleine Persönlichkeit hast du da erschaffen.
    So schön und einzigartig die Puppe ist, so vielsagend sind auch die Wahl der Perspektiven für die Fotos.
    Meinen Respekt, dass du sie ziehen lassen konntest, ist es doch gar nicht so leicht, sich von seinen "Kindern" zu lösen...
    Claudiagruß

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    1. liebe claudia
      danke! das ziehenlassen war insofern nicht schwierig, da ich von anfang an für dieses mädchen arbeitete. die puppe hätte gar nicht mehr einer andern familie anvertraut werden können, zu eng war (wenigstens für mich) bereits das band zwischen den beiden. aber du hast recht, das schliessen des paketdeckels war nicht ganz ohne.

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  6. Deine WUNDERVOLLE Puppe ist hier eingekehrt und hat uns allen sofort den Kopf verdreht; wir lieben sie schon so sehr! Gerade liegt sie neben meiner Kleinen im Bett (zwischen zwei anderen, schon recht abgeliebten, älteren Stoffpuppen) und sieht so zuhause aus darin, dass es einem das Herz anrührt...
    Sie ist perfekt so wie sie ist. Absolut perfekt. (Über die "Brusthaare" musste ich lachen) Auch die Kleider! Ich habe dir ja schon geschrieben, dass sie praktisch im Partnerlook zu "ihrem" Babymädchen ankam; dasselbe Grün, beide in einer Pebble! Ich mag alles an ihr, den Mund, die Augen, die Haare (so herrlich wild!), die liebevoll gemachten Kleidchen (ich selber hätte nie die Geduld, so kleine Sachen zu nähen! Umso mehr freue ich mich darüber)... alles! Du hast das so schön gemacht. Und uns so eine Freude damit...! Danke nochmals aus tiefstem, übervollem Herzen!
    dankbar und berührt; Bora

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  7. ha! da sprichst du mir aus der seele, liebe m. und zwar sowas von.
    dieses zelebrieren des biedermeier reloaded ... und zugleich dieses selber-nicht-ganz-davor-gefeit-sein ... aber doch bleibt da noch was, das den entscheidenden unterschied ausmacht; eben genau das radio, die zeitung, das denken, die gesprächsinhalte, das tun auch.
    (woran ich gerade denken muss beim zustimmenden lachen über deine znüni-version (ach, dieses wort!!) :: mein neuer favorit in sachen #wtf :: fotografische essensinszenierung in einem meer von absichtlich drapiertem (!) herumgeflock und -gebrösel. sieht ja auch echt schön aus. aber eben ...)
    ich mag deine puppe, sie hat v.a. mit ihren coolen haaren so was vormärzliches! ich glaube, die wird wunderbar aufgehoben sein am ort ihrer bestimmung.

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  8. Habe ganz zufällig deinen blog mit der puppe entdeckt, musste lesen und staunen; bin berührt von deinen worten und der puppe. Wäre plötzlich gerne wieder dieses kleine mädchen, das ich einmal war- leidenschaftliche puppenmama- mama für diese erste puppe mit soooo viel persönlichkeit und ausdruck.
    Bin "gwunderig" ob noch mehr solche persönchen entstehen werde ab und an bei dir vorbei schauen......
    gabriela h.

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  9. meine güte, ist die süß! ich bin verliebt!
    herzlichste grüße
    dania

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Ich freue mich über jeden Kommentar.
Weil dann Statistik-Zahlen zu Menschen werden.
Dank dir.