Mittwoch, 10. Dezember 2014
Alpha: Vom Zähmen
Im Umgang mit den Schafen geistert in letzter Zeit immer wieder ein Begriff durch meine Gedanken: Zähmen. Man stellt sich da ja was vor, was einem wohl die Filmindustrie eingeimpft hat: Mensch und Tier pirschen sich täglich etwas näher an einander an. Irgendwann flieht das Tier nicht mehr, irgendwann nimmt es Futter aus der Hand, irgendwann lässt es sich streicheln, und dann, dann ist es zahm. Und holt Hilfe, wenn man in eine Gletscherspalt fällt oder vertreibt den angreifenden Bären oder...
Die Realität ist anders. Meine Schafe lernen mich kennen, ob ich mich speziell mit ihnen beschäftige oder sie einfach versorge. Sie kennen meinen Gang, meine typische Kleidung, meinen Geruch, meine Stimme, meine Geschwindigkeit etc. Es ergibt sich ohne spezielles Zutun eine Vertrautheit im täglichen Umgang. In speziellen Situation (Scheren, Verladen etc.) nützt mir das aber nichts. Bei unsern ersten Schafen waren solche "Events" eine nervenaufreibende Sache. Aber nicht die Schafe waren das Problem, sondern wir. Heute weiss ich besser, wie Schafe ticken. Ich treffe Vorkehrungen, verkleinere beispielsweise vorgängig beim Füttern, wenn sie entspannt sind, ihre Stallfläche auf einen guten Quadratmeter. Allein das macht die Tiere extrem ruhig. Sie stehen gerne eng in der Gruppe. Dann kann ich mich zwischen sie stellen, Halsbänder und Stricke montieren etc. ohne dass es zu Aufregung kommt. Die Tiere sind dann in dieser Situation sehr zahm, wären aber genauso panisch wie ihre Vorgänger, wenn ich ihnen mehr Platz liesse. Ihr "Zahm-Faktor" ist also weniger eine Eigenschaft von ihnen als von mir. Und dieses zahm, dieses "Miteinander-vertraut-sein", wie es der Fuchs beim Kleinen Prinzen (Saint Exupéry) nennt, ist nicht nur Gewöhnung, sondern begründet sich auf Wissen, Intuition, Einfühlungsvermögen, Kennen und Akzeptanz.
Auch mit dem Hund gibt es wenig Ärger, wenn ich nicht auf das "perfekt abgerichtete" Tier, ein Ideal, vertraue, sondern wenn ich vielmehr das mir anvertraute Individuum gut kenne und weiss, wie es tickt. In bald elf Jahren mit dem Herrn Hund habe ich akzeptiert, dass er gewisse Dinge nicht kann oder nicht will. Zum einen begründet sich das in seinem Charakter, zum andern in meiner (fehlenden oder fehlerhaften) Erziehung. Wenn ich ihn als Lebewesen mit Eigenheiten, Stärken und Schwächen akzeptiere und daraus für mich Konsequenzen ziehe (z.B. anleinen bei Hundebegegnungen, nicht aber unbedingt im Wald) und die Verantwortung übernehme, haben wir eine tolle gemeinsame Zeit ohne Stress und Ärger.
Wir tun gut daran, uns selbst auch in Bezug auf unsere Kinder "zu zähmen" (welche wie wir selbst dabei wild und fröhlich bleiben können). Wenn ich mir bewusst bin, welche Aufmerksamkeitsspanne, welche Frustrationstoleranz, wieviel Appetit, welches Schlafbedürfnis, wieviel Sicherheit mit unbekannten Personen usw. usf. mein Kind hat, kann ich es vor meinen eigenen überspannten und unrealistischen Erwartungen schützen, seinem Tempo und Empfinden entsprechend agieren und auf seine Bedürfnisse eingehen. Ein glückliches Kind ist etwas anderes als ein zufriedenes Schaf oder ein entspannter Hund. Unser Part ist aber immer ähnlich: Wir brauchen viel Liebe, Intuition, Reflexion, Kenntnis, Neugier und die Bereitschaft, die Verantwortung für die Qualität des Zusammenseins zu übernehmen.
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Ich freue mich über jeden Kommentar.
Weil dann Statistik-Zahlen zu Menschen werden.
Dank dir.
Hundehaltung mit Kindererziehung zu vergleichen mag manche schockieren, aber ich habe das immer schon ganz ähnlich gesehen! Gerade kleine Kinder sind so unheimlich basal, man kann viel über Kinder lernen, wenn man sich Tiere anguckt, finde ich. Und du hast so Recht: Als "Erzieher" geht es immer um Klarheit und natürliche Autorität! Kinder (wie vermutlich Hunde auch) brauchen klare Ansagen, klare "Führung". Auch wenn die Worte mir selbst einen Schauer über den Rücken laufen lassen: Ich meine das ganz ohne moralische Dominanz, ohne verbrämte Kategorien wie "Respekt". Ich meine einfach, dass das Leben (mit Kind und allgemein) viel leichter läuft, wenn man weiß, was Sache ist, was man kann und nicht kann, wo man hinwill. Danke für den schönen Einblick in Deine Tierwelt :)
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
frederike