„Es ist
gesund!“ flüstert sie, nachdem sie die sehnlichst erwartete Mail ihrer Ärztin
gelesen hat. Die Anspannung der letzten Tage löst sich, einige Freudentränen
kullern. Ich freue
mich mit. Wie schön, dass sie jetzt guter Hoffnung sein darf.
Aber die
Worte, die sie gewählt hat, klingen noch lange nach bei mir. Das Kind hat weder
Trisomie 13, 18 noch 21, soviel ist jetzt sicher. Es wurde aber nicht
untersucht, ob es mit einer anderen genetisch bedingten Krankheit oder
Besonderheit leben wird. Noch weniger sicher ist, ob dieser (vermutlich)
gesunde Embryo dereinst auch ein gesundes Baby sein wird. Es liegen noch einige
Monate Schwangerschaft vor Mutter und Kind, sensible Entwicklungsschritte
stehen bevor. Auch während der Geburt können dem Kind irrepareable Schäden
zugefügt werden. Und dann fängt das Leben mit all seinen Gefahren erst an. Unfälle und Erkrankungen können das Kind und seine
individuellen Bedürfnisse stark verändern. Es ist nicht eine Besonderheit, wenn
einem Kind früher oder später etwas Derartiges widerfährt, vielmehr ist es aussergewöhnlich,
wenn es ohne „Schreckmomente“ durch die Kindheit kommt. Zum Glück laufen die
meisten Unfälle und Erkrankungen (hier bei uns wenigstens mit unseren
medizinischen Standards) glimpflich ab. Das Kind wird sowenig gesund bleiben,
wie wir selbst es sind. Wir alle haben körperliche Schwachstellen, die einen
sind nur schwach ausgeprägt und problemlos in den Alltag integrierbar, andere
von grösserem Ausmass, welche mehr Aufmerksamkeit, vielleicht sogar
Einschränkung bedeuten.
Das
„gesunde Kind“, ja der „gesunde Mensch“ ist ein unerreichbares Ideal. Und immer
wieder irritert es mich, wie die verschiedenen Formen und Ausprägungen von
Normabweichungen gewichtet werden. Vielen Eltern erscheint es undenkbar, ein
Kind mit einer geistigen Beeinträchtigung zu begleiten. Ob sie die Kraft für
die Betreuung eines Diabetiker-Kindes, eines blinden Kindes oder eines mit
schwerer Neurodermitis haben, stellen sie sich nicht (weil sie gar nicht danach "gefragt" werden).
Immer
wieder beobachte ich, dass werdende Eltern Sicherheit wollen, wo es keine
Sicherheit gibt. Sätze wie „Ein behindertes Kind kommt für uns nicht in Frage“ oder
„Wir haben ein Recht zu entscheiden, ob wir ein behindertes Kind wollen“ irritieren
mich sehr. Dieses Denken kann man sich während der Schwangerschaft noch leisten.
Danach greift diese Einstellung nicht mehr. Schliesslich gibt es keinen
mitgelieferten Garantieschein, mit welchem man das „erworbene Produkt“, sollte
es „Mängel“ aufweisen, retournieren oder austauschen könnte.
Ich weiss
nicht, welches (Vor-)Wissen sinnvoll ist und welches nicht. Es gibt gute
Gründe, genauer überprüfen zu wollen oder zu müssen, wer da vielleicht unterwegs ist zu einem, so wie es auch gute Gründe gibt, genau das nicht wissen zu wollen. Nur etwas ist meiner Meinung nach tatsächlich falsch: das Überprüfen
ganz weniger Besonderheiten mit dem Aufdecken aller überraschenden
Möglichkeiten zu verwechseln.
Kinder sind
immer ganz anders, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen ausgemalt hatten.
Manchmal etwas mehr, manchmal etwas weniger.
Ein Post
über so ein komplexes Thema kann nie allen Eventualitäten und Einwänden gerecht
werden. Das Thema liegt mir aber aus verschiedenen Gründen sehr am Herzen,
deshalb wage ich die Veröffentlichung dieser Gedanken.
Folgende
Blogs lese ich sehr gerne. Sie überraschen mich immer wieder mit Posts, welche mich
sehr berühren und meine eigenen eingefahrenen Gedanken in Schwung bringen:
kaiserinnenreich
(zum Einstieg z.B. hier oder hier)
Das Rotkehlchen hat auch etwas verwechselt. Nämlich sein eigenes Spiegelbild mit einem Konkurrenten. Während zwei Tagen flog es seine Angriffe auf die Scheibe unseres Wohnzimmerfensters. Die Spuren zeigen (das Bild ist nur ein kleiner Ausschnitt des ganzen Fensters) das Ausmass seiner Fehleinschätzung: hunderte kleine Abdrücke seines wohl leicht fettigen Schnabels oder seiner Krallen.
so gut gedacht, so ein schönes fazit.
AntwortenLöschenich kann nur ein rufzeichen dahintersetzen.
Menschen mit Behinderung sind genauso Mensch, wie Menschen ohne. Manchmal sind die Charakterschwächen, die 'gesunde' Menschen haben, mehr Behinderung, als die der 'behinderten' Menschen.
AntwortenLöschenEin toller Post!
Danke für deine ehrlichen Gedanken und Worte zu diesem komplexen Thema. Wie gut, dass dich eben diese Komplexität nicht davon abgehalten hat, darüber zu schreiben! Es gibt keine Garanien und das Leben bleibt immer gefährlich. Nur die Liebe kann alles heilen.
AntwortenLöschenLiebe Grüße von Lena
In deinem Text finde ich viele meiner eigenen Gedanken wieder. Danke sehr und liebe Grüße
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